Die Gedanken einer Fünfzehnjährigen

Brief

Sie schrieb einen Brief mitten im Unterricht.
Natürlich sah es unser Mathelehrer; er hatte einen siebten Sinn für so etwas. Und wie immer, wenn er jemanden beim Zettel schreiben erwischte, lies er den Übeltäter die Nachricht laut vorlesen. Oft war es langweilig (Pläne für das nächste Wochenende), manchmal peinlich (die üblichen Liebesgeschichten).
Doch dieses mal… Mit so etwas hätte niemand gerechnet!
„Vorlesen.“, befahl der Lehrer.
Ohne mit der Wimper zu zucken sah sie ihn an und begann dann vorzulesen:

Oh my dear,
wir schieben doch ständig alle Missstände auf die Gesellschaft. Dabei sind – für andere – auch wir die Gesellschaft! Wir sollten zunächst uns selbst ändern. Das Schlechte ausmerzen, bis wir uns selbst in die Augen sehen und irgendwann vielleicht sogar respektieren können.
„Sharpen your mind“, hatte Kate immer gesagt. Jedoch nicht, damit wir uns über die Missstände auslassen können, sondern um einen Weg zu finden, um sie zu ändern.
Und erinnere dich an ihre letzten Worte: „True revolution comes from true revulsion. When things get bad enough the kitten will kill the lion.“
Ich denke, bald werden die Dinge schlimm genug sein. Also lass uns die Löwen besiegen! 
Dafür müssen wir gewappnet sein, am besten nicht erst…

Sie blickte wieder auf, mit unbewegter Miene. „Das war’s.“
Die Gedanken einer Fünfzehnjährigen.
Es war als hielten achtundzwanzig Schüler den Atem an.
Ich hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, wie der Brief weitergehen sollte. Und ich möchte wetten, der ganzen Klasse und unserem Lehrer ging es genau so.
Doch unser Mathelehrer konnte das natürlich niemals zugeben.

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