Ich wäre gern ein Wanderalbatros

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Mit einer Stimme, so optimistisch wie eine Amsel im Frühling, erzählst du mir etwas von „Alles wird gut.“ Dieser Stimme mag ich vielleicht glauben. Doch meine innere Stimme schreit lauter und brüllt mich an, lauter als ein Flugzeug beim Start. Dabei schaffe ich es nicht einmal, mein Leben zu starten, geschweige denn ein Flugzeug.
Fliegen allerdings wäre schön. Wie ein Vogel breite ich meine Schwingen aus und gleite durch die Lüfte. Wie ein Wanderalbatros, der oft wochen- ja monatelang unterwegs ist ohne einmal Land zu berühren. Vielleicht habe ich sehr viel vom Wanderalbatros in meinem Blut. Zu gerne wäre ich ebenfalls monatelang unterwegs, weit weg von diesen Ländern und Menschen. Aber da gibt es ja noch meine Angst vor dem Wasser, vielleicht also lieber kein Seevogel. Jedoch bleibt es mein Wunsch, zu fliegen.
Vielleicht auch doch über Meere, solange ich nicht abstürze. Ich stürze so schon oft genug. In Abgründe, die tiefer sind als die in meiner Seele. Abgründe, gefährlicher als Ozeane. Denn ein Ozean hat doch immerhin irgendwie etwas Beruhigendes. Wie damals, als wir an der Atlantikküste saßen und den Wellen zusahen. Sie waren so hoch und die Flut kam herein. Doch das konnte uns einfach nicht beunruhigen. Stundenlang saßen wir da und sahen ihnen zu. Damals als ich dachte, dass noch alles wieder gut werden würde. Weil du es schließlich gesagt hattest.
Mittlerweile habe ich das Gefühl, du wärst so eine Aufziehpuppe. Als Kind hatte ich eine. Beziehungsweise meine Geschwister und ich – wir mussten uns vieles teilen. Die Puppe damals hatte Schlaflieder gespielt, sobald man sie aufzog. Du sagst beruhigende Wörter, sobald du meinen Gesichtsausdruck siehst. Der viel zu oft Verzweiflung und Resignation zeigt.
Wenn ich abends weine – was eigentlich ständig der Fall ist – spüre ich die getrockneten Tränen noch morgens auf meiner Wange. Und meinen Augen sieht man es auch an. Sie sind traurig. Ach nein, das sind sie eigentlich immer. Meine Augen sind gerötet, aber meine Haut ist blass. So blass, als wäre sie durchsichtig.
Und wieder denke ich an den Albatros, dessen Federn immer weißer werden, je älter er wird. Menschen werden angeblich immer weiser, je älter sie werden. Mag schon sein. Bei mir zeigt sich das durch unendlichen Pessimismus. Ich nenne das Realismus. Ich weiß mittlerweile, was alles schiefgehen kann. Also bereite ich mich darauf vor. Ich sehe die größten Teufel an den schwärzesten Wänden, bevor irgendjemand überhaupt eine Mauer gebaut hat. Nur ich eine um mich herum. Das nennt sich dann wohl Lebenserfahrung.
Ein Wanderalbatros lebt durchschnittlich ungefähr 40 Jahre. Ein Mensch sicherlich 70 Jahre. Das ist fast doppelt so lang. Was machen wir mit diesem ganzen Leben – außer es zu verschwenden?
Für einen Wanderalbatros reicht es, nach Nahrung zu suchen und genügend Nachwuchs auf die Welt zu bringen. Schließlich ist er eine bedrohte Art. Menschen hingegen gibt es viel zu viele. Und Menschen sind solche Arschlöcher. Ich glaube nicht an Menschen. Warum also sollten wir überhaupt leben? Und dann auch noch so lange? Ich muss mich vor mir selbst für mein eigenes Leben rechtfertigen, habe aber kein einziges gutes Argument vorzuweisen. Vielleicht sollte ich mich mehr darauf konzentrieren, Argumente zu finden, Argumente zu schaffen. Und nicht auf diesen naiven Glauben daran, dass alles „gut“ wird.
Und vielleicht sollte ich es einfach akzeptieren, dass der Wunsch vom Leben eines Wanderalbatros immer nur ein Wunsch bleiben wird.
Oder wie war das mit dem Realismus?

9 Gedanken zu “Ich wäre gern ein Wanderalbatros

  1. Ein Essay, eine Reflexion, die in der Lage ist einen in der Mitte auseinanderzureißen und das Verlangen erzeugt sich dann sorgsam wieder zusammenzunähen.

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  2. Es kann verwunderlich sein zu erfahren, daß man/frau schneller zum Albatros wird als man/frau es sich erträumt. Es kann … einfach geschehen. Wenn die eine Welle ihren Ort erreicht. Es gibt Billiarden Wellen. Dennoch geht die Einzelne nie verloren und zieht ihre Bahn bis sie ein Ufer erreicht.

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    1. Hey liebe Colleen, freut mich sehr, dass du dabei an mich denkst und auch vorher fragst. Ich habe nichts gegen Nominierungen, da ich es schön finde, wenn Blogger sich gegenseitig unterstützen, Komplimente machen und einfach ein wenig kennen lernen möchten 🙂 Ich bin schon gespannt auf deine Fragen! (Ich erhoffe irrsinnige und tiefgründige Fragen, aber kein Druck 😉 )

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  3. Da überkommt mich direkt der Wunsch dir meine Hand zu reichen, ich würde dir nicht sagen „Alles wird gut“, aber “ Du bist nicht alleine mit deinen Zweifeln.“

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