Dark Secret

»Ich habe schlecht geschlafen«, sage ich, wenn meine Augenringe schwarzer sind als jede Nacht. »Liegt bestimmt am Vollmond«, ergänze ich mit einem Lachen. Ich habe die halbe Nacht geweint.
»Ich treff mich mit einer Freundin«, sage ich, wenn ich nachmittags durch die nächste Kleinstadt stolpere. Oder: »Ich wollte mir eine neue Regenjacke kaufen.« Ich bin wie jede Woche auf dem Weg zur Therapie.
»Ich hab Eisenmangel«, sage ich, wenn jemand sieht, wie ich dieses kleine weiße Ding in den Mund schien. »Das ist eine Eisentablette.« Es ist ein Antidepressivum.
Ich lüge viel und verschweige noch mehr. Mein Geheimnis ist ein dunkler Abgrund, in den mein Kopf mich stürzt.

Desire

I think time kills everything. Not just humans with their fragile skin and bones, all those living things born to die. The years killed thoughts I never wanted to have in the first place.
So I waited and waited, grew older, in some things even wiser. There grew wrinkles around my eyes and mouth, there grew strands of grey hair on top of my head, my body started to hurt in strange places.
But not even the all-devouring teeth of time could rid my brain of you. I still dream of you, I long for your touch, your skin on my skin, your lips on my lips.
I still think time kills everything. But time is a liar also.

Mauersegler

Über uns fliegen die Mauersegler. Ich halte noch immer Ausschau nach dem falschen Gesicht, aber es macht nicht mehr so viel. Es macht nicht mehr so viel. Es ist wie ein leiser Gedanke, der sich manchmal meldet. Meistens aber meldet er sich nicht. Meistens halte ich Ausschau nach Mauerseglern und noch lieber nach Schwalben. Ich erkenne sie am Schwatzen. Meistens halte ich Ausschau nach Schafen und Ponys, nach Steinadlern und Bartgeiern, nach Gletschern und nach Wolken. Manchmal halte ich noch immer Ausschau nach dem falschen Gesicht, aber es macht nicht mehr so viel. Es macht nicht mehr so viel.

Nordseeurlaub

Alle fuhren in den Ferien in den Süden, an den Gardasee oder die Adria, manche sogar bis nach Kroatien. Meine Ferien fanden in England statt, für mich war Strand Kies und Meer kalt und es gab Fish & Chips. Manchmal bekam ich Sonnenbrand, meist bekam ich Gänsehaut. Wir packten immer Pullover mit ein. Ich spreche bis heute Englisch mit Akzent von Newcastle. Alle anderen sprechen bis heute kein Italienisch oder Kroatisch.

nicht geliebt

»Kann man Liebeskummer haben, wenn man doch gar nicht geliebt hat?« Sie sieht hilflos aus. Hilflos, an der Grenze zu verzweifelt.
Was antwortet man denn auf sowas? Ich versuche es mit: »Vielleicht reicht es, wenn man gelebt hat.«
Sie wirkt nicht überzeugt, also ergänze ich: »Vielleicht trauerst du nicht der Person hinterher, sondern dem, was hätte sein können.«
»Da hätte gar nichts sein können!«, ruft sie. »Das wusste ich doch von Anfang an. Ich wollte ja nicht mal, dass überhaupt etwas hätte sein können!« Sie sinkt wieder in sich zusammen. »Aber warum bin ich dann so fucking traurig?«
Warum ist sie dann so fucking traurig?
Das, was sie sagt, passt nicht zu dem, was sie fühlt. Denke ich und frage: »Kann es sein, dass du dich ein wenig selbst belügst?«
»Natürlich.« Sie seufzt. »Nicht nur ein bisschen. Und nicht nur mich selbst. Wir haben doch alle gelogen. Oder zumindest ein paar mal zu oft die Wahrheit verschwiegen.«
Ich versuche es mit der nächsten möglichen Erklärung. »Vielleicht trauerst du einer alternativen Wahrheit hinterher?«
»Vielleicht trauere ich meinem Stolz hinterher.« Sie atmet tief durch. »Und vielleicht trauere ich auch der Möglichkeit hinterher, einmal wirklich alles im Griff zu haben.«
Ich glaube, jetzt verstehe ich etwas. Ich drücke ihre Hand. »Vielleicht ist es Liebeskummer, nicht wegen der verlorenen Liebe zu einem anderen Menschen. Sondern wegen der verlorenen Liebe zu dir selbst.«

Dorfjugend

Die Dorfjugend traf sich immer am Zigarettenautomaten, der – aus welchen Gründen auch immer – an einer Scheune wenige Meter hinter dem Ortsschild hing. Dort begann auch ein Feldweg, hervorragend geeignet dafür, dass sie mit ihren alten, fast schwarzen Audis oder noch älteren silbernen Opel Astras dort stehen konnten. Früher hatte auch ein Kaugummiautomat dort gehangen, früher, als sie noch mit ihren Fahrrädern hierhergekommen waren, doch niemand kaute mehr Kaugummi, sie rauchten lieber, während sie sich darüber beschwerten, dass es keinen Edeka mehr im Ort gab. Ihr Red Bull mussten sie sich inzwischen seit zwei Jahren an der Tankstelle im Nachbardorf kaufen. Dort bleiben konnten sie aber nie lange, wie es Nachbardörfer so an sich haben, herrschte eine verbittert Feindschaft, die niemand wirklich erklären konnte, und die dortige Dorfjugend duldete sie nur zum einkaufen, nicht aber zum herumlungern.
Die Dorfjugend traf sich immer am Zigarettenautomaten.

Show, don’t tell

Du sagst nicht »Ich liebe dich«, aber du bringst mir ein Glas Wasser, wenn ich zu wenig getrunken habe und bringst mir meine Lieblingsschokolade vom Einkaufen mit und ab März jede Woche Tulpen bis du mir Blumen von den Wiesen pflücken kannst, und du legst mir meine Brille, die ich ständig suche, dorthin, wo ich sie garantiert sehe.
Du sagst nicht »Ich liebe dich«, aber »du schaffst das« und »schreib, wenn du angekommen bist« und »wie schön, dass es dich gibt«.
Du sagst nicht »Ich liebe dich«, aber du zeigst es mir.

Beweis

Zuerst wollte ich meine Gefühle verbergen. Ich hielt penibel Abstand zu dir, schenkte dir nichts zum Geburtstag und ignorierte alle Anspielungen. Ich sprach nie von dir.

Dann wollte ich meine Gefühle beweisen. Ich schlief in deinem Arm ein und du wachtest in meinem auf. Wir verbrachten Weihnachten zusammen. Ich stellte dich meiner Familie vor und meinem gesamten Freundeskreis auch.

Jetzt fahre ich an deiner Wohnung vorbei, ohne zu halten. In meinem Handy ist kein Herz mehr hinter deinem Namen, alle Fotos und Nachrichten sind gelöscht. Ich rede nicht mehr von dir und denke nicht mehr an dich.
Als Beweis, dass ich dich nicht mehr liebe.

aufgeräumt

Ich hatte mein Herz aufgeräumt, wirklich, mich von unbrauchbaren Gefühlen getrennt, Erinnerungen ausgeräumt, die Zeit heilt so viel, wirklich. Doch dann kamst du zurück und deutest auf Kratzer und Schrammen, auf Staub, der in den hintersten Winkeln klebt, auf Spinnweben in Ecken und den Geruch von altem Rauch in den Gardinen. Ich hatte mein Herz aufgeräumt, wirklich, doch als du wieder einzogst, kam das Chaos zurück.

In meinen Träumen

In meinen Träumen sind wir irgendwo anders abgebogen. In meinen Träumen habe ich dich gar nie kennengelernt. In meinen Träumen ist für immer Frühling, Sommer, Herbst, aber niemals Winter. In meinen Träumen ist mein Körper stark. In meinen Träumen bin ich wieder sieben Jahre alt. In meinen Träumen bin ich unverwundbar. In meinen Träumen habe ich trotzdem Herzklopfen von den falschen Menschen. In meinen Träumen habe ich trotzdem ein schlechtes Gewissen. In meinen Träumen habe ich Geheimnisse, die manchmal auch herauskommen. In meinen Träumen bin ich immer noch ich. Und das ist gut so und das ist schrecklich.