Gewittergehirn

D. sagt: »Es klingt anstrengend, dein Gehirn zu haben.«
Und F. fragt: »Wie kannst du dir das alles merken?«
Und M. fragt: »Wie kannst du dir das alles ausdenken?«

Ich habe schon immer mit dem Kopf in den Wolken gelebt,
und hinter meiner Stirn hausen die Gewitter.

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Glaube nicht

Glaube nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie du zufällig meinen Arm berührst. Mir zu jeder Gelegenheit Komplimente machst – aber ehrliche und gute. Ständig meinen Blick suchst, als wäre meine Bestätigung die einzige, die zählt. Glaube nicht, ich hätte nicht dein Lächeln bemerkt, wann immer ich deinen Namen sage oder dir etwas aus meinem Leben erzähle.
Aber glaube vor allem nicht, dass das reichen würde, um eine andere Person zu vergessen.

Und dein leerer Stuhl

Mama stellt noch immer dein Blumengeschirr auf den Terrassentisch, dabei hatte sie sich so lange du lebtest über das kitschige Muster beschwert und darüber, wie schnell wir Kinder es zerbrechen würden, selbst als wir Kinder schon 16, 19, 23 waren.
Jetzt beschwert sie sich nicht mehr, sie setzt es besonders behutsam ab, und ich könnte schwören, dass sie mittlerweile besonders oft Kuchen macht, Rhabarber, Himbeer, Apfel. Denn es erinnert an dich, genau wie die Hundsrose, die du vor 49 Jahren dort eingepflanzt hast, genau wie der Kaffee, den du immer zu dünn machtest, und die Decke, die du in den letzten Jahren immer mit nach draußen nahmst, und dein leerer Stuhl.

Ist das ein Date?

Was für eine überfordernde Situation. Ich bin froh, dass ich dich gleich sehe, als ich auf den Marktplatz trete und über den Marktplatz zu dir gehe, am Brunnen vorbei, durch Menschen hindurch. Ich war mir noch nie so meiner selbst bewusst, meiner schiefen Beine, die bei jedem Schritt seltsam aussehen müssen, den Falten um meine Augen, die ich gegen die Sonne zusammenkneife, weil ich nicht mit Sonnenbrille auftauchen wollte als sei ich ein Filmstar, die Haarsträhne, die mir der Wind ungünstig ins Gesicht weht.
Du grinst und hebst die Hand, als du mich siehst, und alles wird noch ein bisschen kribbeliger, und ich spüre, wie sich der Schweiß auf meiner Stirn, auf meinen Schläfen und in meinem Nacken bildet.
Ich stehe schließlich vor dir und will dich umarmen, aber so verschwitzt will ich dich nicht umarmen, und ist eine Umarmung überhaupt angebracht?
Wir umarmen uns nicht, ich bin erleichtert und enttäuscht zugleich, aber die Enttäuschung wird abgeschwächt, weil du so schön grinst, und immerhin hast du dieses Treffen vorgeschlagen, als mochtest du mich nicht nur als Teil der Gruppe, sondern auch mal zu zweit allein.

Der Anfang von mehr

Als wir uns das erste Mal sahen, wussten wir nicht, dass das der Anfang von mehr sein könnte. Du hieltst meine Hand zu lange und sagtest etwas, das klang als hättest du schon viel von mir gehört. Ich sagte »Oh oh«, dabei ging ich davon aus, dass die Anderen noch nicht viel Schlechtes über mich sagen konnten, und du gingst nicht darauf ein.

Der Beginn allen Unheils

Der Beginn allen Unheils sind vertauschte Identitäten, als müsste etwas versteckt und etwas anderes heraufbeschwört werden. Dabei begann das größte Unheil von allen mit der Wahrheit und dem Versuch, sich dahinter zu verstecken, wenn man doch eigentlich gefunden werden möchte. Zwischen all den unausgesprochenen Wahrheiten und den ausgesprochenen Wahrheiten. Und zwischen den ausgesprochenen Halb-Wahrheiten und den gedanklichen Halb-Wahrheiten.
Der Beginn allen Unheils sind Wahrheiten, die zu Halb-Wahrheiten werden.
Der Beginn allen Unheils ist mein schwaches Herz.

Schuld ist das Ding mit Zähnen

»Schuld ist das Ding mit Zähnen, Gewissen ist das Ding mit Krallen.« Sie öffnet und schließt ihre rechte Hand, als möchte sie etwas verdeutlichen damit.
Ich lächle wissend. »Immer so positiv.«
Sie sagt nichts dazu. Wie meist, wenn ich ihr keine direkte Frage gestellt habe.
Also stelle ich ihr eine direkte Frage. »Und was ist dann Verzeihen?«
Die Antwort kommt schnell, doch es klingt wie eine Frage. »Ein Ding der Unmöglichkeit?«
Sie läuft ein paar Schritte, die Steine knirschen unter ihren Schuhen, was man fast nicht hört, weil das Meer zu laut rauscht. Meine Augen folgen ihren Bewegungen. Lieber ihren Bewegungen als den Wellen. Wellen machen mir Angst.
»Vielleicht ist Verzeihen auch etwas, woran man arbeiten muss«, schlage ich vor.
»Ersetzen wir das ›muss‹ durch ›kann‹.« Dann dreht sie sich weg und starrt aufs Meer, um das Gespräch, das doch sie begonnen hat, zu beenden.

Gefühle im Konjunktiv

Träume noch immer von Menschen, die ich schon längst hinter mir gelassen haben möchte.
Bekomme zittrige Hände, noch bevor ich den Kaffee trinke, denn manchmal könnte es nicht am Koffein liegen, sondern an der Gesellschaft.
Erinnere mich an erste Begegnungen mit Menschen, deren erste Begegnung nicht von Belang sein sollte. (Ein Gespräch, dessen Notwendigkeit ich nicht verstand.) (Ein Händedruck, dessen Dauer ich nicht verstand.)
Jemand fragt mich: »Wer war das?«, obwohl ihm die Antwort egal sein sollte Und mir die Frage.
Fühle Gefühle, die es nur im Konjunktiv geben sollte. Und die es in der Realität nie geben wird.